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Einführung

©MKK Zentrum Zentrum für Regionalegeschichte

Unser Anliegen ist – damit die sogenannte „schwere Zeit” und die ersten Jahre des wirtschaftlichen Aufstiegs nicht in Vergessenheit gerät – eine Sammlung von Geschichten, Bildern, Dokumenten und Gegenständen aus den Dörfern, die in den 70er Jahren unter dem Namen Brachttal zusammen gelegt wurden, zu erstellen und der Öffentlichkeit zu präsentieren. Zwischen 1945 und 1955 gab es noch kein Brachttal. Die Dörfer Hellstein, Schlierbach, Udenhain, Neuenschmitten, Streitberg und Spielberg gehörten zum Altkreis Gelnhausen. Erst zwischen 1970 und 1974 wurden sie aus verwaltungstechnischen Gründen zusammengefasst und hießen von nun an „Brachttal“. Wir suchen auch in den benachbarten Orten Geschichten, aber der Fokus bleibt auf Brachttal gerichtet.  Auch sehen wir 1955 nicht als eine Mauer, eher als eine offene Zeitgrenze, da wir nicht die Ressourcen haben, um alle Nachkriegsjahre zu bearbeiten. Wir hoffen auch zu dokumentieren, dass gerade diese „schlechte Zeit“ (manchmal auch „schwere Zeit”  genannt) eine bessere Zukunft für die meisten Menschen in der Gegend beförderte. 

Warum gerade „schlechte Zeit” oder „schwere Zeit” als Thema dieser Webseite? Sicherlich, es gab schlimmere Momente in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts: zwei zerstörerische Weltkriege, die Hitler-Jahre und der Holocaust in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren Zeiten des Schreckens. Zu diesen Themen gibt es eine überwältigende Masse von Büchern, akademischen Arbeiten, Biografien, Webseiten und Filme. Auch in unserer Gegend existiert auf der lokalen Ebene eine rege Erinnerungskultur an den Zweiten Weltkrieg, an den Anti-Semitismus, Rassismus, und an den Holocaust. Diese historischen Tatsachen formen die horrende Vorgeschichte der Zeit, die wir zu dokumentieren versuchen. Uns geht es um das tägliche Leben nach diesen Krisen. Wie die Menschen in einer überschaubar kleinen, hessischen Gegend in dieser schweren Nachkriegszeit ihr tägliches Leben führten ist auch wichtig. Es geht uns darum, zu dokumentieren, wie Menschen mit ihren traumatischen Erfahrungen zurechtkamen und einen Neuanfang wagten. Es geht um Schicksale von Einzelpersonen in einem geografisch und zeitlich begrenzten Raum. Wir wollen ein Online-Archiv aufbauen, das eine Art Flickenteppich oder Collage sein wird, in dem Filme, Fotos, Interviews mit Zeitzeugen und schriftliches Material ohne theoretische Zwänge oder Hintergründe gesammelt werden. Es werden Alltagsgeschichten von Zeitzeugen erzählt und durch historische Dokumente kontextualisiert. 

Manche Historiker und Zeitzeugen sprechen von einer „Stunde Null”, wenn sie den totalen Sieg der alliierten Mächte über das NS-System im April 1945 thematisieren. Die „offizielle” totale Kapitulation am 8. Mai 1945 kann demnach zu recht als Anfang einer neuen Zeit für das in vier Besatzungszonen geteilte Deutschland verstanden werden. Aber es ist auch eine historische Verzerrung, weil von Heute auf Morgen sich nicht alles verändert. Wie Karl Marx schon 1852 in seinem Werk „Der 18. Brumaire des Louis Napoleon“ sagte:

Es waren schwere Zeiten im Altkreis Gelnhausen, und die erbärmlich harten ersten Nachkriegsjahre wurden durch Vertriebene, Flüchtlinge und Evakuierte aus den Städten noch katastrophal verschlimmert. Die Statistik des Landkreises zeigt, dass die Bevölkerung zwischen 1939-49 um 45% wuchs.* Ein Teil der Männer war noch in Kriegsgefangenschaft und kam erst in den 50er Jahren zurück; dazu kamen bald neue Eheschließungen und Kinder. Die Wohnungsnot zu lindern war laut Landrat Kress die schwerste und dringendste Aufgabe der Zeit um 1949.** Aber dazu stellten auch Ernährung, Gesundheitswesen, Schulen und Arbeitsbeschaffung massive Probleme dar. Wie diese und andere Herausforderungen der Zeit von der Bevölkerung und der Gemeindeleitung bewältigt werden konnten, erfahren wir aus dem Mund von Betroffenen, die bereit waren, durch Interviews und die Bereitstellung von persönlichen Dokumenten und Unterlagen, ihre Erfahrungen aus dieser Zeit mit uns zu teilen. Ergänzend zu den Interviews werden viele öffentliche Dokumente sowie Zeitschriften und andere schriftliche Quellen aus dieser Zeit vor dokumentiert.

„Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter    unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen. Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden” 

Aber es geht nicht nur um das nackte Überleben. Die Menschen fanden auch Mittel und Wege, das Leben miteinander freundlich zu gestalten. Nach der Währungsreform im Juni 1948 ging es langsam wieder aufwärts. Wir wollen deshalb auch die Freuden und einfachen Vergnügungen in dieser Zeit nicht in Vergessenheit geraten lassen. Denn wie so oft in schweren Zeiten setzt sich Einfallsreichtum und Hoffnung auf ein besseres Leben durch. Da die meisten von uns nach dieser „schweren Zeit” geboren sind, ist es wichtig, dass wir nicht vergessen, was die vorige Generation erfahren, erarbeitet und uns geschenkt hat.

Im  Mai 1945 herrschte in der betrachteten Gegend wie im gesamten Deutschland das Chaos. Die Zukunft war ungewiss. Aber nach der Ankunft der Amerikaner in Hessen wurde wenigstens klar, dass ein ganzes System am Ende war, und das die Zukunft zum grössten Teil von und mit den Besatzungsmächten gestaltet würde.  Aber wer hatte schon Zeit, lange zu grübeln wenn es um das nackte Überleben so vieler Menschen in der Gegend ging?

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Wenn Sie persönlich lokale zeitgenössische Geschichten, Bilder, Gegenstände oder Dokumente besitzen, nehmen Sie doch bitte Kontakt mit uns auf!

*Landrat Kress, „Heimat in Schwerer Zeit” in Zwischen Vogelsberg und Spessart: Heimat-Jahrbuch des Kreises Gelnhausen für 1949, S.17

 

**Quelle 2 Ibid, S. 17-18.

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